Der rosarote Regenschirm

Es war einmal und ist nicht mehr. Viele liebe Erinnerungsstücke verliert man im Laufe seines Lebens oder wirft sie in einem unbedachten Moment einfach weg. Mit dem rosaroten Sonnenschirm verhält es sich nicht so.

Er gehörte meiner Großmutter und ist jetzt an die 100 Jahre alt. Er ist von undefinierbarer Farbe, ein Gemisch aus verschossenem Rot und staubigem Grau. Der Griff ist schon lange abgebrochen, an zwei Stangen hat sich die Bespannung gelöst. Spannt man ihn auf, dann sieht er grotesk dreieckig aus.  Der Schirm hat schon unglaubliche Dinge gesehen. Kassel in den Goldenen Zwanzigern und Wuppertal in den Dreißiger Jahren. Kassel während des Zweiten Weltkrieges, ein Flüchtlingslager, eine kleine Dachwohnung in Innsbruck und ein Landgasthaus im Tiroler Ötztal.

Ich sehe meine Großmutter noch, das hässliche Ding aufklappen, vor den Spiegel  treten, ihn einige Mal hin und her drehen und ihn dann mit einem energischen, abschließenden Seufzer in den Mülleimer werfen. Jahre später fand ich ihn dann zwischen alten Kleidern und Schuhe.

„Ich dachte, du wolltest ihn wegwerfen? War er nicht schon in der Mülltonne?“  „Ach, Kind, “antwortete sie und lächelte ein bisschen verschämt „ der Schirm ist mir solange nachgelaufen, dass ich es einfach unfair fand, ihn schmählich im Stich zu lassen.“

Die Geschichte des Schirms beginnt  1924 in Kassel. Meine Großmutter war ein hübsches Mädchen, mit ebenmäßigem Gesicht, einer perfekten Figur und verstand es, Männer auch sich aufmerksam zu machen.  Sie war kokett und umschwärmt und genoss dies in den wilden Zwanzigern. Sie tanzte gerne, ging ins Theater und ins Kabarett und hatte dabei wechselnde Männerbegleitung. So bekam sie den Ruf eines leichtsinnigen Frauenzimmers. „Zu Unrecht, wie ich heute zu geben kann, aber damals hat mich dieser Ruf amüsiert und ich habe fleißig daran gearbeitet ihn auch zu erhalten.” Aus diesem Grund hatte sie sich diesen rosaroten Sonnenschirm gekauft. „Dem Schirm geht es wie mir, man sieht ihm seine einstige Schönheit nicht mehr an. Aber als ich ihn kaufe, war er ein entzückender, altrosa Sonnenschirm, mit flatterndem Volants am Rand und einem keck wippenden Bommel am Griff.“ Der Widerschein des Altrosa schmeichelte dem Teint meiner Oma und gab ihren grünen Augen ein besonderes Licht. Zudem war er unerlässlich bei jedem Flirt. „ Man konnte sein Gesicht keusch dahinter verstecken, aber unter dem Rand mit Blicken spielen.“

Der Schirm verlor bald den Reiz des Neuen und des Verbotenen und so ließ ihn meine Großmutter bei einem Einkaufsbummel einfach im Geschäft stehen. „Da stand plötzlich der Schirm im Ständer auf unserer Diele. Aus dem Besuchersessel am Fenster in unserem Salon erhob sich ein Mann und wartete höflich, bis Mutter mich ihm vorgestellt hatte. Es war Heinrich Hirsch, der Besitzer des führenden Modegeschäftes. Er bot mir eine Stelle als Vorführdame in seinem Geschäft an.“

Meine Großmutter verliebte sich in den etwas älteren Herrn und heiratete ihn wenige Monate später. Sie löste dafür die Verlobung mit dem Nachbarsjungen, hielt das Verlobungsjahr nicht ein und ging mit Heinrich und ihrem rosaroten Sonnenschirm nach Wuppertal. „Aber Gott lässt uns nicht ungestraft seine Gesetzte übertreten. Auf einer Wanderung im Gebirge stürzte dein Großvater so schwer, dass er sich das Genick brach und sofort Tod war.“  In der Zwischenzeit waren die Nationalsozialisten an der Macht und meine Großmutter verlor das Geschäft und ihr Haus, war sie doch mit einem Juden verheiratet gewesen. Mit wenigen Habseligkeiten und ihrem rosaroten Sonnenschirm ging sie nach Kassel zurück, nahm eine Stelle in einer Fabrik an und begann von vorne. „Der Verdienst in der Fabrik war gut, aber ich konnte nicht so richtig mit Geld umgehen. Irgendwie war ich immer pleite und so konnte ich mir keinen Regenschirm kaufen, den ich in Kassel weiß Gott hätte gut gebrauchen können. Also funktionierte ich meinen Sonnenschirm um. Ich trennte die Volants ab und löste den Bommel vom Griff.

„ Ja, dann starb meine Vater und es regnete heftig am Tag seiner Beerdigung. In meiner Trauer nahm ich den Regen nicht war und verließ den Friedhof ohne Schirm.  Bis ein Mann mit einem rosaroten Regenschirm neben mir auftauchte. Er lud mich auf eine Tasse Kaffee und eine leidenschaftliche Affäre begann. Gert hatte die Einberufung schon in der Tasche. Nach sechs Monaten kam die Vermisstenanzeige, das Haus in dem ich wohnte bekam einen Volltreffer ab und ich wurde obdachlos.“ Auf der Such nach noch gebrauchsfähigen Gegenständen fand die Hauswirtin Großmutters Schirm. Er war grau vom Staub und der Griff abgebrochen, aber in einer sentimentalen Anwandlung nahm meine Oma den Schirm wieder an sich.

Sie meldete sich zum Lazarettdienst und lernte dort einen Klotz Josef aus Österreich kennen. Nächtelang saß sie an seinem Bett und erzählte ihm Geschichten. Auch die Geschichte des rosaroten Sonnenschirms. Im Chaos der letzten Kriegswochen verloren sie sich allerdings aus den Augen. Eines Tages entdeckte sie unter den vielen Suchanzeigen eine ganz Bestimmte:“ Ich suche die schöne Luise mit dem rosaroten Sonnenschirm.“ Und damit trat Josef wieder in das Leben meiner Großmutter.

1948 heiratete sie und flüchteten mit dem rosaroten Sonnenschirm nach Innsbruck, in die Heimatstadt von Josef.

„Verstehst du nun, warum ich dieses schäbige Ding nicht in den Müll werfen kann? Der Schirm und ich wir haben beide die Sonne genossen und den Regen abgewehrt, dabei sind wir gealtert und schäbiger geworden, aber im Grund sind wir geblieben, was wir waren: eine Frau und ein Schirm“.

Neulich beim Osterputz entdeckte mein Enkelsohn den Schirm. Und meine Tochter meinte entsetzt:” Gott Mutti wirf doch endlich dieses Ding in den Müll!” Ich werde dieses alte Ding nicht wegwerfen, genauso wenig, wie die Erinnerungen an meine Großmutter.

Text, Aquarell und Foto: Friederike Hirsch 2021

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