Hinter dem dritten Fenster links

Der Frühjahrsputz

Frühling hatte immer schon etwas Besonderes für sie. Man konnte wieder nach draußen gehen, die Erwachsenen hatten bessere Laune, die Erde roch frisch und neu, der Himmel war nie so blau und die Berge nie so schön. Alles war im Aufbruch, Ostern stand vor der Tür. Eine aufregende Zeit. Ihre Mutter strahle dann wieder ein bisschen, lächelte häufiger und ab und an kam es vor, dass sie sang.

Sarah wuchs in einem 300 Jahre alten Haus in einem Tiroler Tal auf. Das Haus war dunkel, aus massivem Stein gebaut. Die Winter dort waren kalt und trostlos. Es gab keine Zentralheizung und selbst das WC war in den strengen Wintertagen eingefroren. Für ihre Mutter bedeutete der Winter ein Mehr an Arbeit, ein Mehr an Streitigkeiten mit ihrem Mann und ein Mehr an Einsamkeit. Und so sang Sarahs Mutter den Frühling herbei. Sarah wusste, dass der Frühling dann begann, wenn ihre Mutter Frühjahrsputz machte. Es war wie ein Ritual, als ob Sarahs Mutter den Winter buchstäblich auskehren würde. Kein auch nur so kleinstes Eck im Haus blieb verschont. Es wurde geschrubbt, gekehrt, Teppiche geklopft, Matratzen gebürstet, Spinnweben abgesaugt, Fenster geputzt und der ganze staubige Winterbalast aus dem Haus verbannt.

Sie meinen, dass macht jede Hausfrau? Oh, nein, weit gefehlt. Sarahs Mutter putzte nicht nur, sie renovierte. Finanzielle Mittel hatte sie nie, da alles an Geld in den Betrieb ging. Sarahs Vater hatte einen kleinen Betrieb und pünktlich zum Frühjahrsbeginn, auch ein eindeutiges Indiz, dass Frühling wurde, kaufte ihr Vater ein neues Auto oder einen neuen Anhänger. Sarahs Mutter renovierte trotzdem und wie sie saget: „Na, das Machen wir halt nach Art des Hauses.“ Nach Art des Hauses hieß alles selbst machen, kein Geld brauchen und die billigste Farbe kaufen, die es gab. Sarah machte das großen Spaß. Da wurden Möbel verrückt, Möbel zerlegt und was Neues draus gebastelt, Teppiche zerschnitten und Wände angemalt.

Sich selbst renovierte Sarahs Mutter nicht. Kein neues Kleid, keine neuen Schuhe und Geld für den Friseur gab es sowieso nie.  Wie sehr das an ihrem Selbstwertgefühl nagen mochte, konnte Sarah damals nicht einmal ahnen. Sarah wusste nur, dass der Frühling aufregend und spannend war. Sarahs Vater hingegen war missgelaunter, oder wie man es in Tirol nennt, grantiger als sonst.  In den Tagen des Frühjahrsputzes lieferten sich Vater, der Winter und Mutter, der Frühling, einen Kampf um die Vorherrschaft. Je mehr Sarahs Mutter sang und putzte, umso mehr fluchte und brüllte Sarahs Vater.

Am Ostersonntag gipfelte das Ringen in den Kampf der Giganten. Sarahs Mutter, aufgewachsen im Deutschland des Zweiten Weltkriegs, mühte sich das Osterfest zu einem besonderen Fest zu machen. Sie war nicht katholisch und feierte das Osterfest nicht im christlichen Sinne der Auferstehung, sondern im heidnischen Sinne, als Erwachen der Natur. Vater, gläubiger Katholik, verabscheute das „Getue“. Keine selbstgemalten Eier, kein aufwändig dekorierter Osterstrauch und kein noch so köstliches Osteressen konnten ihn beeindrucken. Sarahs Mutter hingegen setzte sich über diesen lauten Protest, über die feindlichen Angriffe, über die schlechteste Laune hinweg und feierte ihr Osterfest. Sarah liebte diese Tage. Das Färben der Eier, das Eierausblasen, die Basteleien und das Eiersuchen am Ostersonntag.

Sarah begriff erst Jahre später, dass es ihre Mutter enorm viel Kraft und auch Mut gekostet haben muss, sich zu widersetzen.  Erst spät erkannte Sarah, dass die wenigen Tage im Frühling, die einzigen Tage waren, in denen sich ihre Mutter behauptete. Und nur in diesen Tagen war sie, sie selbst. Eine starke, fröhliche Frau, die das Leben genoss und mit beiden Händen nach den Sternen griff. Vaters Gegenstrategie erscheint der großen Sarah nach Jahren des Unverständnisses auch klarer. Er hatte Mutter fest im Griff. Ihr ganzes Selbst war nur auf ihn gerichtet. Elf Monate im Jahr, außer an Weihnachten, wenn alljährlich der Weihnachtsputz startete, machte sie mehr oder wenig willig genau das, was ihr Ehemann von ihr wollte. Bei genauerem Hinsehen tat sich sogar mehr. Immer vorausschauend, mit der Grundhaltung des vorauseilenden Gehorsams, diente sie. Doch jedes Jahr, kam der Frühling. Und jedes Jahr erfasste Sarahs Vater Panik. Panik, er könnte die Kontrolle verlieren. Panik, dass seine Frau mehr Aufbegehren würde, als nur zu renovieren und zu singen.

Und so kämpften sie im Frühling. Einen Kampf, den keiner gewann, der keinen Sieger machte, nur Verlierer.

Die Frühlinge zogen ins Land. Das alte Haus war vor Jahren umgebaut worden. Es gab Zentralheizung, ein Badezimmer und ein immer funktionierendes WC.  Der Betrieb hatte einiges an Geld abgeworfen und Sarahs Vater arbeitet nur mehr, weil er keine Hobbies hatte.

Sarahs Mutter war über Siebzig, als sie aufhörte Frühjahrsputz zu zelebrieren. Sie meinte nur:“ Meine Knochen tun weh und so richtig schmutzig wird es nicht mehr. Wir zwei Alten machen keinen Dreck mehr.“ 

In diesem Frühling ergriff Sarah eine ungeahnte Unruhe. Dieser Frühling war anders. Der Frühjahrsputz ein anderer. Sarah staubte ihre Bücher nicht nur ab, sondern sie packte sie in Kisten. Je mehr Kisten sich stapelten, umso deutlicher wurde für sie, dass dies der letzte Frühjahrsputz in ihrer Ehe sein würde.

In diesem Frühjahr bäumte sich Sarah auf, ließ den alten Ballast hinter sich, gewann den Kampf anstelle ihrer Mutter.

Auch Sarahs Mutter verabschiedete sich. Am Ostersonntagmorgen ging sie, ohne die Möbel zu verstellt, die Wände gemalt oder Eier versteckt zu haben. Sie ging leise und still, ohne Kampf und ohne, dass Sarahs Vater sie, durch Schreien oder Fluchen, hätte davon abbringen können. Sarahs Vater wartetet noch bis Weihnachten. Ein Weihnachten ohne großes Trara war dann auch für ihn zu viel. Keiner, der einen großen Putz veranstaltete, keiner, der singend den Baum schmückte, keiner, der ihm sagte, er solle sich gefälligst ein frisches Hemd anziehen.  Bevor er zu seiner Frau ging, meinte er:“ Was soll ich auf den Frühling warten. Ein Frühling ohne Frühjahrsputz ist kein Frühling. Ein Frühling, ohne dass deine Mutter singt, ist kein Frühling.“

Frühling hatte immer schon etwas Besonderes für Sarah und ihre Eltern. Man konnte wieder nach draußen gehen, die Erwachsenen hatten bessere Laune, die Erde roch frisch und neu, der Himmel war nie so blau und die Berge nie so schön. Alles war im Aufbruch, Ostern stand vor der Tür. Eine aufregende Zeit…

Fenster Ötztaler Heimatmuseum/Längenfeld (Foto:Hirsch)

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